02 Nov 2021
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Autor:
Christian Hinterwallner
/ Pixabay/CCO Public Domain/annapictures
Es gibt ein Thema, das in den letzten Jahren in vielen Bereichen eine beispiellose Dynamik angenommen hat und an welchem man auch in der Veranlagung nicht mehr vorbeikommt, nämlich "Nachhaltigkeit". Mit dem Raiffeisen Research ESG Scoring hält die Thematik nunmehr auch in der Aktien-Einzeltitelanalyse breitflächig Einzug.
Starkes Wachstum bei nachhaltiger Veranlagung
Dieser Artikel ist in einer leicht verkürzten Form bereits im Raiffeisen Börsebericht veröffentlicht worden. Normalerweise setzen sich Aktienanalysten im Tagesgeschäft vor allem mit Unternehmensergebnissen, Bewertungen oder makroökonomischen Einflussvariablen, wie Konjunkturdaten und Zinsen auseinander. Gelegentlich kommen dann noch spezielle Ereignisse, wie die COVID-19 Krise oder das jüngste Hochschießen bei den Energiepreisen als wichtige Einflussfaktoren für das Marktgeschehen hinzu. Dennoch gab es ein Thema, das in den letzten Jahren allen Marktturbulenzen zum Trotz eine beispiellose Dynamik angenommen hat und an welchem, egal ob auf der Finanzierungs- oder Veranlagungsseite, bei Unternehmen, Konsumenten und nicht zuletzt Investoren, keiner vorbeikommt – nämlich „Nachhaltigkeit“. Im Englischen ist das ganze unter ESG abgekürzt, wobei das E für Environmental, also Umweltthemen, das S für Social, folglich Sozialaspekte, und das G für Governance ergo Unternehmensführung steht.
Welchen Zug diese Thematik hat, zeigt sich beispielhaft an folgenden Zahlen. Sieht man sich die globalen Nettozuflüsse in Aktien-ETFs mit einem dezidierten Nachhaltigkeitsfokus an, so sieht man, das seit 2015 die Zuflüsse exorbitant anziehen, wobei alleine das letzte Jahr dann mit netto USD 80 Mrd. noch einen gewaltigen Sprung brachte. Auch heuer setzt sich die Rekordjagd fort, da bis Anfang Oktober schon mehr als USD 85 Mrd. netto an Zufluss zu verzeichnen waren. An der Stelle sei gesagt, dass das ETF-Segment hier gerade einmal rund 20 % des gesamten Kuchens ausmacht und daher aktive Strategien den Löwenanteil ausmachen. Denn das Gesamtvolumen an Nachhaltigkeitsprodukten liegt dem Branchenspezialisten Morningstar zu Folge mittlerweile bei EUR 1,9 Bio., was in etwa 17 % des Eurozone-BIPs bzw. dem fünffachen BIP Österreichs entspricht. Spannend ist hier, dass Europa beim Thema Nachhaltigkeit mit einem Anteil am Gesamtvolumen von 82 % eindeutig die Nase vorne hat.
Boom bei nachhaltiger Veranlagung
Ein Grund für das signifikante Wachstum ist aber auch in der ansprechenden Performance von ESG-Aktien und Indizes zu finden. So wären bei einer Veranlagung in den MSCI World SRI (SRI steht für Socially Responsible Investing, also sozial verantwortliches Investieren) in fünf Jahren aus EUR 100 mittlerweile rund EUR 186 (auf Gesamtertragsbasis) geworden. Die COVID-19 Krise wurde schnell überwunden und zuletzt wurden Allzeithöchststände am laufenden Band markiert. Spannend ist aber auch die relative Entwicklung im Vergleich zum breiten Markt, also verglichen mit einem Index, der auch nicht ESG-lastige Werte umfasst. Und hier konnte der MSCI World SRI Index in den letzten fünf Jahren eine nennenswerte Outperformance von rund 8 % erzielen.
ESG-Titel profitieren von Nachfrageüberhang
Nachhaltigkeit hat sich also zuletzt auch in der Performance ausgezahlt. Und da das Thema „Nachhaltigkeit“ für die Unternehmen ob der gesetzlichen Rahmenbedingungen und dem Druck der Investoren immer wichtiger wird, gibt es die begründete Hoffnung, dass beim Thema Nachhaltigkeit gute Unternehmen ihre Chance auf eine langfristig gute Performance wahren, weil sie gewisse Risiken minimieren oder sich z.B. auch günstiger refinanzieren können.
So wird am Markt mittlerweile auch von einem "Greenium" gesprochen, also vom Umstand, dass eine mit Nachhaltigkeitsaspekten verknüpfte "grüne Anleihe" im Vergleich zu einer konventionellen Anleihe z.B. für ein Unternehmen zu günstigeren Renditeniveaus emittiert werden kann, da es derzeit einen deutlichen Nachfrageüberhang für derartige Investmentmöglichkeiten gibt.
Spannend in diesem Kontext ist, dass auf der Aktienseite ESG-Indizes ebenfalls mit einem Bewertungsaufschlag im Vergleich zu konventionellen Aktienindizes handeln. Dies ist einerseits durch die Sektorallokation (ESG Indizes haben in der Regel einen höheren Anteil an IT-Titeln) erklärbar, aber durchaus auch Ausdruck der günstigeren Refinanzierungsbedinungen dieser Unternehmen und einem auf der Aktienseite ebenfalls zunehmend wahrnehmbaren Nachfrageüberhang. Letzteres wird dadurch befeuert, dass man bei einem schlechten ESG-Rating für viele Investoren gar nicht mehr als investierbar gilt, zudem erhöht ein gutes Nachhaltigkeitsrating die Wahrscheinlichkeit in wichtigen Benchmarks vertreten zu sein. Natürlich bergen derartige Megatrends – wie es das Nachhaltigkeitsthema zweifelsfrei ist – aus analytischer Sicht immer auch das Potenzial für Übertreibungen, aktuell sehen wir das aber noch nicht gegeben.
ESG-Titel handeln mit Bewertungsaufschlag
Neben den Kundenpräferenzen gibt es aber ebenfalls ganz klar regulatorische Weichenstellungen, welche den ESG-Trend begünstigen. Und auch hier ist Europa in einer Führungsrolle und will als erster Kontinent 2050 klimaneutral sein. Zudem wird die Umsetzung der Agenda 2030 der Vereinten Nationen mit den "Sustainable Development Goals" und des Pariser Klimaabkommens zur Eindämmung des Anstiegs der Erdtemperatur durch gesetzliche Maßnahmen auf EU-Ebene forciert, welche unter dem Schlagwort „Green Deal“ bzw. „Sustainable Finance“ zusammengefasst werden können. Dazu zählt die EU Taxonomie-Verordnung, welche eine Sprache der Nachhaltigkeit auf Unternehmensebene entwickelt und eine Transparentmachung der Thematik mittels u.a. Berücksichtigung im Risikomanagement von Unternehmen ab einer Mitarbeiterzahl von 500 nach sich zieht. Zudem gab und gibt es Adaptionen bei MiFID, der EU-Richtlinie für Finanzinstrumente und neue Offenlegungspflichten. Letztere Maßnahmen führen dazu, dass der Kunde im Beratungsgespräch mit der Bank künftig nach seiner Nachhaltigkeitspräferenz gefragt werden muss und dass ihm entsprechende nachhaltige Produkte als Veranlagungsmöglichkeit offeriert werden. Angesichts der strukturellen Natur dieser Änderungen in der Kundenpräferenz, des Angebots und der Regulatorik wird auch klar, dass das Nachhaltigkeitsthema eines ist, das gekommen ist, um zu bleiben.
Wir tragen diesem Umstand mit dem von unseren hauseigenen ESG-Experten entwickelten Raiffeisen Research ESG-Scoring Rechnung. Dadurch gibt es die Möglichkeit über 8.000 Titel nach ihren Nachhaltigkeitsbestrebungen zu bewerten, wobei die Faktoren Umwelt, Soziales und Unternehmensführung detailliert und gesamtheitlich betrachtet werden können. Die Ergebnisse dieses quantitativen Nachhaltigkeitsratings werden dabei gemeinsam mit einer qualitativen Bewertung der Nachhaltigkeitsbestrebungen der Unternehmen von nun weg auch in de facto allen Aktienanalysen von Raiffeisen Research Einzug halten. Dadurch wird die Analyse eines Unternehmens um diesen wichtigen Aspekt bereichert und gleichzeitig gibt es dadurch die Möglichkeit in Zukunft bei Raiffeisen – egal ob mittels Einzelaktien oder Zertifikaten auf diese – das Thema Nachhaltigkeit noch stärker in seinem Portfolio abzubilden.
Christian HINTERWALLNER
Christian Hinterwallner ist studierter Betriebswirt und seit 2005 in unterschiedlichen Rollen im Investment Banking des Raiffeisen Bank International-Konzerns tätig. Seit 2021 leitet er das Equity Research Department, das sowohl den österr. Raiffeisensektor als auch institutionelle Kunden serviciert. Der Schwerpunkt seiner Analysetätigkeit liegt auf der Aktienmarkt-Strategie.